Warum Essensfotos auf Instagram eigentlich nur moderne Höhlenmalereien sind, wie die Küche der Zukunft aussieht und warum wir wieder mehr selber machen – das verrät uns Futurologe Max Thinius im Interview.
Herr Thinius, was denken Sie als Futurologe: Woran liegt es, dass Selbermachen wieder an Beliebtheit gewinnt?
Dass Selbermachen beliebter wird, hat viele Gründe. Die Generationen ab den Millennials sind so weit, dass sie durch das Internet und die moderne Technologie viel leichter recherchieren. Sie können sich dadurch Wissen sehr leicht aneignen und sich einfach mit anderen Konsumenten vernetzen. Das hat auch zur Folge, dass die Herkunft und Herstellung von Produkten und Lebensmitteln keine Blackbox mehr sind. Heißt: Industrieprodukte werden zunehmend auf den Prüfstand gestellt und hinterfragt – und im Zweifel lieber selber hergestellt. Ein Beispiel ist die „Craft & Maker“-Bewegung: Menschen kommen zusammen und stellen Dinge selber her. Sie treffen sich zum Tüfteln, Bauen und Selbermachen.
Hat die Digitalisierung etwas damit zu tun, dass Menschen gerne wieder Teige kneten und Eintöpfe rühren?
Essen hat die Eigenschaft, etwas „Handfestes“ zu sein, nicht umsonst heißt es zum Beispiel „Bäckerhandwerk“. Ein handgeformtes Brot hat einfach eine andere Qualität als ein gekauftes Industrieprodukt. Man verbindet sich beim Kochen und Selbermachen wieder mit Konstanten, was in unserer schnelllebigen Gesellschaft wichtig ist. Viele Menschen arbeiten am Computer und erstellen den halben Tag lang virtuelle Produkte. Da ist es auch beruhigend, mal wieder Gemüse aus eigenem Anbau zu verarbeiten.
Durch das verfügbare Wissen gibt es viele neue Möglichkeiten: Wir stellen pflanzenbasierte Produkte her, die Fleisch ähneln, um den Fleischkonsum zu senken. Wir teilen Rezepte mit anderen Kochbegeisterten weltweit. Wir eignen uns Wissen darüber an, wie die Arbeitsbedingungen auf den Kaffeeplantagen in Guatemala sind. Wir wollen Nahrung und Lebensmittel jetzt wieder hautnah erleben, Rohprodukten beim Wachsen zusehen können, wir wollen sie wieder anfassen können.
Eine kleine Randnotiz zum Thema Digitalisierung: Das Prinzip „Jäger und Sammler“, das genetisch in uns verankert ist, ist übrigens auch der Grund, dass so viele Menschen ihr Essen posten, weil sie immer noch – wie früher bei den Höhlenmalereien – einfach das Bedürfnis haben zu zeigen, wo es Nahrung gibt. Das tun sie jetzt auf Instagram.
Welche anderen Unterschiede gibt es zwischen dem Selbermachen zu Omas Zeiten und dem Selbermachen heute?
Im Prinzip gibt es keinen Unterschied. Zu Omas Zeiten haben wir in der Agrarwirtschaft gelebt, da wurde selbst angebaut und die Menschen haben die Produkte selbst weiterverarbeitet. Dann kam die Industrialisierung, bei der zunehmend in Betrieben gearbeitet und weniger selbst angebaut wurde. In der Zeit der Industrialisierung war man darauf angewiesen, dass Waren und Produkte geliefert werden, ohne die genauen Inhaltsstoffe zu kennen. Jetzt sind wir wiederum in der Digitalisierung angekommen, und im Prinzip ist es wieder genauso wie zu Omas Zeiten:
Es ist wieder ersichtlich, wie die Produkte angebaut wurden, wie die Produkte gewachsen sind, wie es um die Nährstoffe zum Zeitpunkt der Ernte bestellt ist. Nur müssen wir nicht mehr alles selber anbauen und produzieren, sondern können uns auch mit anderen zusammentun, weil wir eben digital vernetzt sind. Wir haben also wieder das gleiche Wissen und das gleiche Grundprodukt wie unsere Großeltern – bereitgestellt und weiterentwickelt mithilfe von digitaler Technologie.
Welche Vorteile bietet es uns, selbst zu kochen?
Kochen war schon immer ein gesellschaftliches Thema: Man hat in der Küche zusammen gekocht, man hat zusammen etwas gemacht und man hat dabei wichtige Themen besprochen. Das Gemeinschaftsgefühl und der Austausch sind auch heute noch große Faktoren. Selbst kochen bietet natürlich auch die Möglichkeit zu wissen, was drin ist. Und: Es ist etwas anderes, zum Beispiel Brot selber zu backen, also ein Grundnahrungsmittel, als wenn man etwas im Laden kauft. Man hat einen anderen Stolz, wenn man etwas selber gemacht hat, und selber kochen stärkt tatsächlich auch die Psyche. Wir werden selbstständiger, fühlen uns besser und mehr im Leben verankert, denn wir sind nicht mehr so abhängig wie in der Industrialisierung. Das führt auch dazu, dass größere, gesellschaftliche Themen hinterfragt werden. Ernährung leistet also einen großen Beitrag in gesellschaftlichen Bewegungen.
Stimmen Sie der These zu, dass es heutzutage einfacher ist als je zuvor, sich gesund zu ernähren?
Es ist im Moment noch nicht einfacher, denn die klassischen Industrieprodukte sind noch beliebter als selbst hergestellte Produkte, was auch mit dem Faktor Zeit zusammenhängt. Nicht jeder hat in einer Arbeitswoche zum Beispiel noch die Zeit, zum Angeln rauszufahren, um nicht den bereits filetierten Fisch aus dem Supermarkt zu kaufen. Die Zukunft aber wird unglaubliche Möglichkeiten bieten. Ich habe den kleinen Anbauer der ersten digitalen Möhre in Deutschland besucht. Durch die digitalen Möglichkeiten wissen wir eben genau, dass das Saatgut seit vier Generationen frei von krebserregenden Schädlingsbekämpfungsmitteln ist, wann ausgesät wurde und wie die Erde zusammengesetzt ist. Wir wissen genau, wie viel Licht und wie viel Wasser sie bekommen hat und wie schnell sie gewachsen ist. Und wir kennen zum Zeitpunkt der Ernte genau die Inhaltsstoffe.
Auf der einen Seite haben wir immer mehr detaillierte Daten über Lebensmittel, und auf der anderen Seite immer mehr digitale Daten über Menschen. Wenn wir diese übereinanderlegen, kann jeder Mensch irgendwann, anhand von Daten, die für ihn perfekte Ernährung abbilden.
Mithilfe von Technologie holen wir uns die Sensibilität zurück, die wir vor der Industrialisierung noch besaßen: für das, was uns guttut und was gesund für uns ist. In Deutschland müssen wir nur entspannter werden im Umgang mit Technologie. Sie kann uns helfen und will uns nicht bevormunden – und das sollten wir nutzen.
Werden Fertigprodukte und Lieferdienste langsam aus unserer Gesellschaft verschwinden?
Die Hersteller haben schon erkannt, dass Konsumenten weniger Fertigprodukte kaufen. Auch Lieferdienste werden sich ändern. Die fertigen Pizzen und Asia-Boxen, bei denen man die Zutaten nicht kennt, werden weniger werden. Es werden immer mehr Rohprodukte und halbverarbeitete Produkte geliefert werden, wie geschnittenes, portioniertes Gemüse oder ausgenommener, verzehrfertiger Fisch – wichtig: frisch muss es sein. So gibt es bereits Lieferdienste, die Verträge mit Bauern in der Region haben; die Kunden wissen so genau, welcher Bauer was liefert und sie können genau verfolgen, was auf dem Hof passiert und wie dort angebaut wird. Je mehr wieder vom Bauern nebenan geliefert wird, desto mehr kleinere Betriebe werden wieder rentabel. Dort kommt dann wieder die Befriedigung durch einen autarken, selbstständigen Lebensstil mit ins Spiel. Über digitale Vertriebs- und Bezahlmethoden können auch abgelegene Wirtschaftsregionen neu erschlossen werden – in Deutschland, aber auch in Entwicklungsländern.
Wie sieht die Küche der Zukunft Ihrer Meinung nach aus?
Arbeitsflächen werden interaktiver und multifunktionaler. Ein Tisch fungiert zum einen als normaler Tisch, aber auch als Waage oder Induktionsherd. Man wird wahrscheinlich auch irgendwann die Zutaten auf die Arbeitsfläche legen können und diese erkennt die Produkte und kann direkt ihren Nährstoffgehalt und passende Rezeptvorschläge liefern. Geräte mit Automatikprogrammen, wie der Cookit von Bosch oder die Küchenmaschine Serie 8, sind da absolut ein Schritt in die richtige Richtung.